„Polizeiruf 110“: André Kaczmarczyk, der erste genderfluide Kommissar - WELT (2024)

Am liebsten spielt er Massenmörder. Fürs Fernsehen wechselt André Kaczmarczyk nun die Seiten. Er ist der erste genderfluide Ermittler im Sonntagabendkrimi der ARD. Was Sie über den Meister der Grenzüberschreitung wissen müssen.

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Er könnte jetzt auch ganz anders dastehen. Nackt, blutüberströmt, verdreckt, auf einem Pferd. Er könnte der sechste Reiter der Apokalypse sein, die neunte Posaune. Das könnte er alles.

Das war er beinahe schon alles. In Dresden, in Düsseldorfs Schauspielhaus, wo er seit 2016 Ensemblemitglied ist. André Kaczmarczyk ist ein Grenzüberschreitungsschauspieler.

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Jetzt steht er bloß da. Ein schmaler Typ. Verschattete Augen, zerbrechlich, dunkle Locken. Und einen Tartan-Rock hat er an. Er schaut, er wartet ab. André Kaczmarczyk ist Vincent Ross, der neue Ermittler im grenzüberschreitenden, länderfluiden, im polnisch-brandenburgischen „Polizeiruf 110“-Kommissariat.

Das weiß da erstmal aber keiner. Ein Mord ist im Haus geschehen, in das er gerade eingezogen ist. Der Mann, der ihm beim Ausräumen seines Sprinters aus Berlin geholfen hat, liegt in seinem Blut. Das Porzellanpüppchen eines undefinierbaren Tierchens war an seinem Ableben beteiligt.

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„Der Highlander“ da, sagt einer von der Spurensicherung, als Kommissar Adam Raczek (Lucas Gregorowicz) einen Zeugen sucht. Ein bisschen bewundernd klingt das fast. Nicht viel später werden Witze übers Gendern gemacht.

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So geschmeidig können Revolutionen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen eben auch mal stattfinden. Vincent Ross ist der erste genderambivalente Kommissar im Sonntagabendkriminalfernsehen.

Ein Rock als Setzung

Was ja immer noch eine geradezu klassische heteronormative Angelegenheit überwiegend weißer, eher älterer Männer ist. Es gab ein paar homoerotische Ausflüge von Mark Waschke als nicht konsequent durchdefiniertem, womöglich bisexuellem Berliner Kommissar Robert Karow zum Beispiel.

Der Rock des Vincent Ross ist aber eine Setzung. Der Beginn eines Rätsels. Viel weiß man nicht über diesen Kommissarsanwärter, der da mit seinem Sprinter im polnischen Slubice landet, ohne dass er ein Wort Polnisch versteht. Jedenfalls scheint das so. Es scheint viel, es ist viel im Fluss an der Oder.

Kaczmarczyk ist aus Düsseldorf zugeschaltet. Da ist er Macbeth. Da ist er Fabian und Falladas kleiner Mann. Ist er Caligula, nackt und blutüberströmt und hoch zu Ross.

„Polizeiruf 110“: André Kaczmarczyk, der erste genderfluide Kommissar - WELT (3)

Da singt er, da irrlichtert er zwischen den Geschlechtern herum. Da ist er zerbrechlicher Kraftdarsteller und Publikumsliebling. Ensemblemitglied wird er nicht bleiben, sagt er. Die Dreharbeiten zu den beiden Brandenburger „Polizeiruf 110“ -Folgen im Jahr kosten zu viel Zeit.

Dass Kaczmarczyk einen polnischen Vater hat, sagt er, hat keine Rolle gespielt beim Casting. Als Kind war er oft da, obwohl das Verhältnis zu seinem Vater sich schnell verflüchtigt hat.

Geboren ist er im thüringischen Suhl. 1986 war das. Er wuchs in die Post-Wende hinein auf. Öde Orte. Angehende Wendeverlierer. Gewalt. Einsamkeit. Fremdheit.

Er ist nicht ballbegabt

Mit neun zieht die Familie nach Eisenach. Prekär ist die Situation. Soziale Kontakte hat André Kaczmarczyk kaum. Theater oder Fußball könnten helfen, sagt die Mutter.

Fußball kommt nicht infrage. Er ist, sagt er, nicht ballgebabt. Der Jugendclub des Freien Eisenacher Burgtheaters wird seine Rettung, seine zweite Heimat. Das Theater schreibt sich ein in seine DNA, sagt er. Alle zwei Tage ist er da. Schaut, spielt.

Entdeckt das Schauspiel als Abenteuer und als Flucht. Er geht an die Berliner Ernst-Busch-Schule. Woanders bewirbt er sich gar nicht erst. Mit Sabin Tambrea ist er in der Klasse und mit Luise Wolfram.

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Er genießt es, sagt er, sich auf dem Theater selbst zu vergessen, sich von sich selbst zu befreien, im Leben der anderen, die er spielt, Möglichkeiten von sich selbst auszuprobieren, sich „in den Rollen mir selbst und der Welt gegenüber weniger fremd zu fühlen, als wenn ich ich selbst bin.“

Er erschrickt fast über die Metaphysik seines Berufs, von der er da erzählt. Aber das, sagt er, ist es nun mal, das ihn antreibt, das ihm auch nicht langweilig wird. „Da werd‘ ich nicht müde“.

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Das Physische ist, was ihn reizt ihn am Theater. Das Verausgaben. Ein hohes Energieniveau konstatiert er sich. Dass er einfach so da sitzt in Düsseldorf, obwohl er gerade freihat, und auf den Rhein schaut, kann man sich kaum vorstellen.

Manchmal ist er in einer Woche der swingende Fabian von Erich Kästner, Albert Camus‘ blutbadender Caligula, der schottische Massenmörder Macbeth und der Serienkiller in David Bowies „Lazarus“. Er könnte im „Polizeiruf“ jederzeit die dunkle Seite geben. Warten wir’s mal ab. Vincent Ross ist erstmal ein ganz anderes Monster. Das Empathiemonster.

Und dann singt er noch, inszeniert Revuen. In Düsseldorf, in der kompletten Gegenwelt seiner Heimat, wohin ihn der ehemalige Dresdner Intendant Wilfried Schulz 2016 mitgenommen hat, ist er – preisgekrönt inzwischen längst – eines der zentralen Abonnementsverkaufsargumente.

Im Fernsehen muss sich jemand wie André Kaczmarczyk eigentlich fühlen wie eingesperrt in einem fremden Körper. Da gilt es nämlich eben nicht der Physis. Da geht die Energie eher nach innen. In Märchenfilmen hat er mitgespielt, in „Allerleihrauh“ zum Beispiel, Filmen, die besser sind als ihr nicht vorhandener Ruf, Kaderschmieden junger Schauspielerinnen und Schauspieler.

Dann ist er zum Casting für den „Polizeiruf“ gefahren. Dass er – wie sein „Polizeiruf“-Kollege Lucas Gregorowicz, der in England als Kind polnischer Eltern geboren wurde und in Polen aufwuchs – durchaus tiefere Wurzeln mit Polen hat, mehr Polnisch versteht, als es die von den Drehbuchautoren Anika Wangard und Eoin Moore ausbaldowerten Figuren erst einmal vorzugeben scheinen, hat, wie erwähnt, wohl keine Rolle gespielt.

Ein starker Hang zur Klugscheißerei

Ihn freut das. Ihn reizt das. Er würde sich wünschen, dass sie noch intensiver ausgespielt würde, die Differenz zwischen den Brandenburgern und den Polen. Oder die Ähnlichkeit. Im Umgang mit der Demokratie. Zum Beispiel.

André Kaczmarczyk wurde Vincent Ross. Wer der eigentlich ist, wird sich noch herausstellen. Was die sexuelle Orientierung angeht. Und den ganzen Rest. Fährten werden gelegt. Der Kilt, die Kette mit dem Ring, mit dem Vincent Ross gerne spielt, den André Kaczmarczyk erfunden hat, dessen Bedeutung aber nicht aufgelöst wird.

Auf jeden Fall ist er das Gegenteil des coolen, vom Abschied seiner Kollegin Olga Lenski (Maria Simon) traumatisierten Machos Adam Raczek. Einer, der schaut, beobachtet, einer, der analysiert. Und dann Sätze in das brandenburgisch-polnische Grenzgebiet stellt, die man nicht mehr vergisst.

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Einen starken Hang zur Klugscheißerei konstatiert Kaczmarczyk seinem Vincent Ross. Eine Eigenschaft, die ihm selbst eher nicht eigen ist. Sagt er. Aber dafür müssten wir jetzt, rät er, erst mal Menschen fragen, die ihn kennen.

Vincent Ross, sagt André Kaczmarczyk, ist einer, um den es immer schwerelos ist. Eine träumerisch über die Grenzen tänzelnde Figur. Eine Figur, wie es inzwischen Legionen gibt im Theater, das dem Fernsehen – bisher zumindest – immer mindestens zwei Debattengenerationen voraus ist.

Vincent Ross entzieht sich der Eindeutigkeit, ist so ambivalent, sagt André Kaczmarczyk, wie das Leben. Das mochte man eigentlich bisher nicht so am Sonntagabend. Bis jetzt. Vincent Ross, dieses Empathiemonster, muss man mögen. Eigentlich. Bis jetzt. Ein weites Feld ist offen. Und wir freuen uns darauf, es zu erkunden. Mit André Kaczmarczyk.

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Author: Tish Haag

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